Berichterstattung über den Berliner „U-Bahn-Treter“

Ich bin vergangene Woche zum Fall des sog. Berliner U-Bahn-Treters von dpa interviewt worden, und zwar zur Frage, was das Video von der Tat so attraktiv macht und zu dessen großer Verbreitung geführt hat. In der Folge bin ich in manchen Medien mit der Aussage zitiert worden, „Es spielt aber sicher auch eine Rolle, dass am Ende ja zum Glück nichts so Dramatisches passiert ist“, wodurch der Eindruck entstand, ich würde mich in zynischer oder unmenschlicher Weise über das Opfer äußern und dessen Leid nicht anerkennen.

Das ist selbstverständlich nicht richtig; ich halte die Tat wie jeder andere vernünftige Mensch für ungeheuerlich und das Opfer hat mein ganzes Mitgefühl. Meine Aussage beschreibt nicht meine persönliche Haltung zur Tat, sondern den Umgang des normalen Mediennutzers mit dem Video von der Tat in einer normalen Nutzungssituation (wobei ich selbstkritisch zugebe, dass ich wie jede/r Andere in meiner täglichen Mediennutzung oft genug ebenso unreflektiert handle). Und da ist es nun mal leider so, dass die Bilder der Tat für Nutzerinnen und Nutzer erstens sehr „attraktiv“ sind, weil sie viele Indentifikationsmöglichkeiten (mit dem Opfer, gegen die personalisierten Täter) bieten und zweitens sozial hemmende Faktoren, wie etwa das Leid des Opfers in Großaufnahme, Blut oder auch das Wissen darüber, dass das Opfer dramatische Folgen bis hin zum Tod erlitten hat, darin nicht unmittelbar sichtbar sind. Was zu meiner zitierten Aussage also gehört, wäre die Einschränkung „… aus Sicht von Nutzern in der konkreten Nutzungssituation …“. Die gesamte längere Interviewpassage, aus der der Satz stammt, dreht sich eigentlich ausschließlich um die Analyse der Situation aus Nutzerperspektive, so dass mir bei Abnahme des Interviews (die dpa mir durchaus erlaubt hat) nicht aufgefallen ist, wie die Aussage ohne Kontext wirken würde; ohne diesen Kontext, wie sie aber leider in mehreren Medien aufgetaucht ist, hat sie eine Schlagseite, die so meine Haltung nicht ausdrückt und von der ich mich selbstverständlich distanziere.

Als Hintergrund kann ich hier vielleicht auch noch anmerken, dass es im Rahmen von Interviews mit Journalisten häufig zu einem längeren Aushandlungsprozess kommt, bei dem Journalisten möglichst klare, prägnante Aussagen haben wollen („Die Medien haben die Wirkung XY“), während man als Wissenschaftler auf den verschiedensten Gültigkeitsbedingungen für Aussagen bestehen muss („in der Regel“, „soweit wir bisher wissen“, „eine mögliche Schlussfolgerung wäre“, „unter der Annahme, dass“). Verkompliziert wird das Ganze noch dadurch, dass die Umfangsrestriktionen von Medien nur begrenzt Raum lassen für detaillierte Erläuterungen (und viele Menschen Details auch gar nicht hören/lesen wollen). Das Ergebnis ist, dass man nach einem Interview oft sehr stark verkürzte Zusammenfassungen der eigenen Aussagen zu sehen bekommt, die man dann versucht, in eine für den Wissenschaftler erträgliche Kompromissvariante zurechtzurücken. Ich persönlich bin dabei meist eher zurückhaltend, weil ich der Ansicht bin, dass es besser ist, wenn trotz gelegentlicher Verkürzung kommunikationswissenschaftliche Befunde ab und zu eine breitere Öffentlichkeit erreichen, als wenn man aus Angst vor verkürzter Darstellung unsere Arbeit im Elfenbeinturm einschließt. Aber manchmal geht das eben auch schief.

Buch erschienen

titel_authentizitätNach arbeitsbedingt relativ langer Bloggingpause hier kurz ein Hinweis auf ein aktuelles Arbeitsergebnis: vor ein paar Tagen ist das von mir gemeinsam mit Alexander Filipovic, Jan Schmidt und Ingrid Stapf herausgegebene Buch „Echtheit, Wahrheit, Ehrlichkeit – Authentizität in der Online-Kommunikation“ (Beltz-Juventa) herausgekommen. Es dokumentiert die zentralen Beiträge einer Tagung aus dem letzten Jahr, die von den DGPuK-Fachgruppen „Kommunikations- und Medienethik“ und „Computervermittelte Kommunikation“ sowie dem Netzwerk Medienethik in München veranstaltet wurde.

Das Buch enthält Beiträge zu drei Aspekten des Authentizitäts-Problems in der Online-Welt: In einem ersten Abschnitt setzen sich mehrere Autoren auf rein theoretischer und philosophischer Ebene mit Authentizität auseinander. Dabei geht es sowohl um eine begriffliche Klärung wie auch normative Verortung des Konzepts, sowohl generell wie auch mit Bezug zur Online-Kommunikation.

Ein zweiter Abschnitt diskutiert dann die konkreten Herausforderungen, die sich durch digitale Medien und Internet für authentische Kommunikation ergeben. Dabei werden sowohl Teilaspekte von Authentizität in den Blick genommen als auch konkrete Fallbeispiele (z.B. die „Anonymous“-Bewegung) oder Anwendungsfelder (z.B. Forschungsethik) disktutiert.

In einem dritten Abschnitt werden empirische Analysen vorgestellt, die konkrete Kommunikationsbeziehungen unter der Perspektive von Authentizität untersuchen, etwa das Reputationsmanagement von Organisationen, die Selbstdarstellung von Mitgliedern gesellschaftlicher Subkulturen oder auch Politikern im Netz.

Weitere Informationen gibt es über diesen Link auf der Verlagsseite.

Tagesschau-App: Realitätsferne Debatten

Als Wissenschaftler, der sich seit vielen Jahren mit Mediennutzung beschäftigt, lerne ich gerne immer mal was dazu. Besonders interessant heute: Das Landgericht Köln meint (nach Darstellung von Claudia Tieschky in der SZ), dass die Tagesschau-App „aus Sicht der Nutzer geeignet ist, als Ersatz für die Lektüre von Zeitungen oder Zeitschriften zu dienen“. Mir ist sowas neu, denn es widerspricht völlig dem empirischen Forschungsstand: Wie ich nicht nur hier in meinem Blog sondern auch in zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen wiederholt deutlich gemacht habe, gibt es keine überzeugenden Belege dafür, dass Nutzer die Zeitung durch (kostenlose) Informationen aus dem Internet ersetzen würden.

Dabei ist dem Gericht eigentlich kaum ein Vorwurf zu machen: Es hat, durch die Beschränkung des Urteils auf die „Ausgabe“ (für ein sich ständig aktualisierendes Online-Angebot ein eigentlich sinnloser Begriff) vom 15.06.2011 ebenso wie durch eine Reihe früherer Äußerungen, versucht die Parteien davon zu überzeugen, dass diese Auseinandersetzung nicht vor Gericht gehört. Es ist wirklich ein Trauerspiel, nun schon über so viele Jahre zu beobachten, wie die gesamte „alte“ Medienbranche sich in eine realitätsferne Traumwelt zurückzieht und gegen nur eingebildete Windmühlen kämpft, während sich die Welt da draußen weiterdreht. In einer digitalisierten Welt – die in den nächsten Jahren auch das alte Fernsehen so in sich aufsaugen wird wie im letzten Jahrzehnt die Print-Medien – sind Begriffe wie „Fernsehen“ oder „Presse“ zur Beschreibung von Branchen/Berufen/individuellem Handeln untauglich geworden, und Hilfskonstruktionen wie „sendungsbezogen“ oder „presseähnlich“ lösen keinerlei Probleme, sondern sind nur ein Ausdruck von Ratlosigkeit. Auch aus Sorge um von mir sehr geschätzte Medien wie die Süddeutsche Zeitung (die ich trotz meiner intensiven Online-Nutzung seit über zwanzig Jahren abonniert habe) hoffe ich inständig, dass sich die relevanten Unternehmen und auch die Politik bald einmal Gedanken über die Gestaltung ihrer und unserer digitalen Zukunft machen, statt zu versuchen, sie aufzuhalten.