Der Verband der deutschen Zeitungsverleger hat auf seiner gestrigen Jahrespressekonferenz, bei der das Geschäftsjahr 2009 bilanziert wurde, erneut kostenlose Online-Inhalte als Bedrohung für das eigene Geschäftsmodell identifiziert, wobei insbesondere die Online-Angebote der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten kritisiert wurden. Hier ein Zitat von Heise online:
BDZV-Hauptgeschäftsführer Dietmar Wolff kritisierte scharf die gebührenfinanzierten Online-Auftritte der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Angebote wie „tagesschau.de“ und „heute.de“ seien quasi „Zeitungen im Internet“. „Verlage können Bezahlmodelle nicht entwickeln, wenn öffentlich-rechtliche Sender kostenlose Angebote mit gleichen Inhalten machen“, sagte Wolff. Es sei ein Skandal, dass die Rundfunkräte solchen Angeboten grünes Licht geben.
Tatsächlich geht die Tageszeitungsnutzung seit mehr als zehn Jahren kontinuierlich zurück, während parallel die Internetnutzung, inklusive der darüber zugänglichen kostenlosen Inhalte, ebenso kontinuierlich zunimmt. Diese umgekehrt proportionale Entwicklung legt den Schluss nahe, dass die beiden Entwicklungen nicht zufällig das jeweilige Gegenmuster darstellen, sondern dass es einen Zusammenhang, ja sogar einen Kausalzusammenhang gibt.
Solche Verknüpfungen von aggregierten Variablen bergen allerdings das Risiko, einem sog. „ökologischen Fehlschluss“ aufzusitzen. Nur weil zwei Indikatoren auf Gesellschaftsebene (Marktanteil Zeitung, Marktanteil Internet) ein komplementäres Entwicklungsmuster aufweisen, muss auf der Mikroebene (beim einzelnen Informationsnutzer) nicht automatisch ein direkter, evtl. sogar kausaler Zusammenhang vorliegen.
Der Grund, warum solche Fehlschlüsse nahe liegen und oft nicht als solche erkannt werden, hängt mit Forschungsökonomie zusammen. Es gibt zwar viele quantitative empirische Untersuchungen, die zu allen möglichen Indikatoren Aggregatdaten liefern. Es gibt allerdings nur sehr wenige Datenquellen, die tatsächlich auf der Mikro-Ebene die jeweils interessierenden Variablen verknüpfen – und zwar deshalb, weil solche Datenerhebungen zeit- und kostenintensiv sind. Dass allerdings die Zeitungsverleger, obwohl sie seit Jahren um ihr wirtschaftliches Überleben kämpfen und eine tragfähige Aufklärung dieser Frage von existenzieller Bedeutung wäre, solche Investitionen bisher gescheut haben, ist mir völlig schleierhaft. Tatsächlich gibt es zwar viele Untersuchungen, die u.a. auch von Verlegerverbänden in Auftrag gegeben wurden, meines Wissens hat aber keine davon ein Studiendesign, das geeignet wäre, die zentrale Frage aufzuklären:
Führt das Internet dazu, dass die Menschen sich von (kostenpflichtigen) Informationen aus der Zeitung abwenden und statt dessen (kostenlose) Informationen aus dem Internet nutzen?
Meines Wissens gibt es weltweit überhaupt nur einen Datensatz, der diese Frage wenigstens ansatzweise beantworten könnte: Den Datensatz aus dem DFG-Projekt „Politische Online-Kommunikation“ von TU Ilmenau und Uni Düsseldorf. Nur dieser Datensatz hat während der zentralen Diffusionsphase des Internets das Kommunikationsverhalten eines repräsentativ ausgewählten Panels von Deutschen ab 16 Jahren (pro Jahr ca. 1500 Personen; weitere methodische Details auf der Projekthomepage) beobachtet und kann individuelle Verhaltensänderungen beschreiben. Vergleicht man mit diesen Daten diejenigen Personen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt ins Internet eingestiegen sind, mit denjenigen, die weiterhin „draußen“ geblieben sind, müsste sich bei diesen „Einsteigern“ eigentlich ein Rückgang der Tageszeitungsnutzung zeigen – wenn denn die unendliche Fülle der kostenlosen (z.T. durch Rundfunkgebühren finanzierten) Inhalte eine unschlagbare Konkurrenz wäre. Die folgende Grafik zeigt an einem Beispiel, dass nichts dergleichen zu beobachten ist:
Egal ob die Befragten ins Internet eingestiegen sind oder Nicht-Nutzer blieben, die Veränderungen im Laufe eines Jahres sind die gleichen: ca. 10 % der Personen hören auf, eine Zeitung zu lesen, ca. 10 % fangen damit an, knapp 80 % ändern ihr Verhalten nicht. Egal, welchen Zeitraum man betrachtet – einen frühen Zeitabschnitt wie der zwischen Anfang 2002 und Anfang 2003 oder einen späten wie Mitte 2008 und Mitte 2009 – dieses Muster ändert sich nicht: Es gibt keinen signifikanten Unterschied zwischen dem Zeitungsleseverhalten der Internet-Einsteiger und der „Draussenbleiber“.
Man kann dem natürlich entgegenhalten, dass es sich vielleicht um längerfristige Effekte handelt, die nicht innerhalb eines Zeitraums von wenigen Monaten zu Tage treten. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, solche Veränderungen über mehrere Jahre hinweg zu beobachten. In der folgenden Abbildung ist die „Netto“-Veränderung, also der Saldo zwischen -1 (für Aufgabe des Zeitunglesens) und +1 (für Aufnahme des Zeitungslesens) dargestellt, und zwar nur für die in der obigen Abbildung bereits beschriebenen Personen, die zwischen 2002 und 2003 ins Internet eingestiegen sind bzw. weiterhin Nicht-Nutzer blieben. Ausgangspunkt ist der gemeinsame Mittelwert des Jahres 2002, der hier auf Darstellungsgründen auf den Wert 0 gesetzt wurde.
Auch hier zeigt sich, dass die Linie der Internet-Einsteiger, von denen man eigentlich im Vergleich zu den dauerhaften Nicht-Nutzern erwarten würde, dass ihre Tageszeitungsnutzung zurückgeht, praktisch immer parallel zur Linie der „Draußenbleiber“ verläuft. Kein Unterschied – egal welchen Jahresabstand man wählt – ist signifikant, auch nicht der in der Grafik etwas größere im letzten untersuchten Jahr (hier sind die Fallzahlen wegen des gewählten Paneldesigns bereits sehr gering). Die gemeinsame Schwankung der beiden Linien geht auf externe Einflüsse zurück, denen beide Gruppen gleichermaßen ausgesetzt sind (z.B. höherer Informationsbedarf während Wahljahren). Es erübrigt sich fast zu erwähnen, dass die (dann jeweils kürzeren) Linien für diejenigen Personen, die erst ein, zwei oder drei Jahre später ins Internet gegangen sind, genau so aussehen und keinen Hinweis auf mögliche Substitutionseffekte geben.
Die Schlussfolgerung aus dieser knappen Darstellung (Details reiche ich nach, wenn die entsprechende Publikation fertig ist): Der verbissene Abwehrkampf gegen das Kostenlos-Internet ist die falsche Strategie, weil dort nicht das eigentliche Problem liegt. Das Problem liegt – unsere Daten belegen das – nicht darin, dass kostenlose Online-Angebote Nutzer von der Zeitung abziehen, sondern darin, dass die etwa unter 40jährigen von vorneherein gar keinen Kontakt mehr mit den Angeboten der Tageszeitung bekommen. Es wird gar nichts mehr ersetzt, sondern die Zeitung wird nicht mehr wahrgenommen, was zum Teil auch eine Folge der extrem defensiven Strategie vieler Verlagshäuser sein dürfte: Da man – aus Angst, die Zeitungsleser würden ihre Abos kündigen, wenn alles kostenlos im Netz steht – kaum relevante, aktuelle, hochwertige Informationen im Netz angeboten hat, haben sich die Informations- und Kommunikationsströme ihre Canyons an deren Webseiten vorbei in die Strukturen des weltweiten Netzes gegraben – und aus diesen Canyons sind sie nicht mehr so leicht umzuleiten. Dass diese Ströme im deutschsprachigen Netz fast alle irgendwie bei SPIEGEL ONLINE enden, ist eine bittere Pointe für die Tageszeitungen: Dieses eigentlich gar nicht tagesaktuelle Wochenmedium hat durch eine frühzeitige offensive Online-Strategie den Platz im Netz besetzt, den die Tageszeitungen hätten haben können.
Da die größte Problemgruppe der Tageszeitungen also nicht die über 40jährigen Menschen sind, die ihre Tageszeitung abbestellt haben, weil sie die Informationen im Internet umsonst bekommen (diese Gruppe gibt es nämlich praktisch nicht, s.o.), sondern die jungen Menschen unter 40, die noch nie Erfahrungen mit der Zeitung gemacht haben, weil sie in einer Online-Welt ohne Zeitungen ganz anders sozialisiert wurden, sind die meisten, rückwärtsgewandten Strategien der Verlage zum Scheitern verurteilt. Die einzige sinnvolle Online-Strategie wäre es, sich zu überlegen, wie man im Netz die Rolle des Informationsbrokers und Teilöffentlichkeiten-miteinander-Verknüpfers zeitgemäß umsetzen kann – und nicht, wie man das alte Verkaufserlösmodell ins Internet kopieren kann. Eine solche Strategie muss sich weitgehend über andere Quellen finanzieren als den direkten Verkaufserlös der Produkte – wenn es Unternehmen gibt, die damit Erfahrung haben sollten, dann sind es ja wohl die Zeitungsverlage, die sich bereits seit Jahrhunderten zum größeren Teil über andere Einnahmen als die Verkaufserlöse ihrer Blätter an die Leser finanziert haben. Tatsächlich gibt es ja auch durchaus kommerzielle Online-Informationsanbieter, die sich über das Netz gut finanzieren können. Als Alternative bliebe wohl nur noch, den Konkurrenzkampf um die Restplätze der in Zukunft mutmaßlich noch verbleibenden Offline-Tageszeitungen aufzunehmen und zu versuchen, vom langsam kleiner werdenden Kuchen auf Kosten der Konkurrenz mehr abzubekommen.